Ich sitze gerade in einem Van (komfortabler als Minibus), der wie so viele Minibusse und Taxis hier eine gerissene Frontscheibe hat. Ob sie die Autos so aus Europa kaufen, weil sie dort nicht mehr gefahren werden dürfen? Gibt es hier so viele Steinschläge oder Vögel die gegen die Scheiben fliegen? Von Unfällen und Zusammenstößen kann das ja wohl nicht kommen. Ich habe keine Ahnung.
Autofahren ist hier auf jeden Fall noch mal spannender als sonst irgendwo. Natürlich gibt es keine Anschnallgurte und ich war auf der Fahrt nach Kobuleti sehr froh weit hinten zu sitzen, obwohl ich auch von da mit ansehen musste, wie der Bus vor uns einen Hund überfahren hat, der dann an uns vorbei über die Strasse geschleudert wurde… Auf der Rückfahrt von Kobuleti saß ich weit vorne und konnte nicht wie alle anderen schlafen, sondern musste dem Fahrer bei seinen halsbrecherischen Überholmanövern zuzusehen.
Das System auf den Landstraßen ist relativ einfach. Es gibt zwei offizielle Spuren, die eine rechts und die andere links. Und in der Mitte, wo der Mittelstreifen verläuft gibt es eine dritte Spur für die Überholer_innen. Angst darf man da nicht haben, ein Glauben an eine höhere Schutzmacht hilft sicherlich. In der Stadt wird einfach kreuz und quer gefahren – bevor man abbiegt oder an einem Auto vorbei fährt wird gehupt und eigentlich scheint das System die meiste Zeit zu funktionieren. Jetzt gegen Ende habe ich auch meine Angst verloren und Vertrauen in den routinierten Umgang mit Chaos seitens der Fahrer gewonnen.
Von Mittwoch bis Freitag haben wir aus Tbilisi, der Hauptstadt Georgiens einen Abstecher nach Yerevan, die Hauptstadt von Armenien gemacht. Ein Ausflug der sich mit Sicherheit gelohnt hat, da die Situation in Armenien doch eine ganz andere ist, als die in Georgien.
Wir erreichten Yerevan, bei strahlendem Sonnenschein – eine Stadt, die nur von Straßencafés wimmelt, mit trockenerem Klima und irgendwie viel relaxter als Tbilisi. Lus, mein_e Gastgeber_in schlug mir vor, dass wir uns abends an der Oper treffen könnten – das sei ein sehr beliebter “hang out” Platz. Alleine dieses Wort, dass ein Gefühl von gemütlicher, abwechslungsreicher Abendgestaltung ohne laute Musik und teure Getränke verhieß, ließ Yerevan gleich in einem positiven Licht erstrahlen und unterschied es eindeutig vom stickigen und lauten Tbilisi.
Nach unserer Ankunft, einem kurzen Aufenthalt in einem Café und einem Treffen mit Artur, der in Yerevan wohnt und den wir auch auf dem Seminar in der letzten Woche kennengelernt hatten, bin ich mit zwei finnischen Couchsurfer_innen durch die Gegend gelaufen, die gerade bei Artur wohnten.
Wir haben uns eine Moschee angesehen, zumindest von außen, weil innen gerade renoviert wurde und mit einem netten älteren Iraner Freundlichkeiten ausgetauscht, wenn auch verbal nicht viel zu vermitteln war. Um den schönen grünen Innenhof der Moschee gibt es viele kleine Zimmer: Lehrräume, aber auch eine Zahnarztpraxis und ein Polizeizimmer, was ganz interessant war. Es gibt wohl eine relativ große Gruppe Iraner_innen in Armenien und die Moschee schien so etwas wie ihr allgemeines Kulturzentrum zu sein.
Auf dem Markt gegenüber wurden uns von allen möglichen Standbesitzer_innen Sachen in den Mund gesteckt: Nüsse in Fruchtteig, Nüsse ohne Fruchtteig, Früchte, Käse und ganz viele Gewürze. Eigentlich hätte ich gerne von allem etwas gekauft, einfach weil es so interessant aussieht, aber das Gekaufte dann die ganze Zeit mit mir rumzutragen und bei dem heißen Wetter, in dem wir uns hier bewegen, wäre alles wahrscheinlich in einem nicht sehr ansehnlichen Zustand zu Hause angekommen.
Abends traf ich mich mit Lus an einem kleinen künstlichen See mit Grünfläche im Stadtzentrum und wir sind zusammen etwas Essen gegangen und haben uns die ganze Zeit toll über Armenien, Georgien und die aktuelle Lage im Kaukasus und der restlichen Welt unterhalten. Krisenregionen, Medieneinflüsse und Kapitalismus. Irgendwie war vom ersten Moment klar, dass wir auf einer Wellenlänge argumentieren und so viel aus unterschiedlichen Perspektiven aber mit dem gleichen Ansatz austauschen konnten. Was großartig, interessant und effektiv ist, wenn man ein Land nur so kurze Zeit besucht.
Am zweiten Tag haben wir einen Ausflug ins Umland von Yerevan gemacht und eine alte Kirche besucht, die mitten zwischen den Bergen gelegen ist. Überall in Armenien wie auch in Georgien gibt es in den Straßen kleine Brunnen, aus denen immer frisches Quell-/Trinkwasser sprudelt – das neben der Kirche sollte besonders gut sein. Und in der Kirche direkt gab es ebenfalls ein kleines Bächlein, dass sich in einem Becken sammelte und dazu auch noch heilig war und heilende Kräfte haben soll.
Noch bezaubernder als die Kirche selbst war sicherlich die Landschaft. Wunderbare Natur, Steppe, Felsbrocken und ganz viel Grün. In dieser Umgebung wirkt alles irgendwie monumental und ich war erstaunt wie viel innländischen Tourismus es dort gibt. Die vielen kleinen Stände, die nebeneinander vor dem Eingang zur Kirche aufgebaut waren, sind aber im Gegensatz zu den meisten anderen Touristengebieten eher günstiger als in der Stadt.
Sowohl Georgien als auch Armenien sind sehr stolz auf ihre christlichen Wurzeln. In Armenien wurde offiziell 301, als erstes Land weltweit das Christentum als Staatsreligion eingeführt. Lus wusste dazu zu berichten, dass es einen armenischen Forscher gab, der herausgefunden hat, dass das Christentum gar nicht 301 sondern erst 313 (?) als Staatsreligion anerkannt wurde. Aus Angst, dass die Erkenntnis jemand anderes vor ihm publiziert und wohl auch aus moralischer Verpflichtung, fügte er diese neue Erkenntnis in ein Schulbuch ein, an dem er arbeitete. Die Regierung war damit gar nicht zufrieden und verlangte, dass alle Bücher eingezogen werden – zwar wurden sie nicht öffentlich verbrannt, aber dennoch musste der Verfasser für den so entstandenen “Schaden” aufkommen, verschuldete sich tief und konnte sein Leben lang keinen Fuß mehr in der Wissenschaft fassen.
Danach besuchten wir einen Tempel, der laut Angaben aller Reiseführer, sowie auch der dortigen Tafeln als Sommerresidenz eines der früheren Herrscher Armeniens genutzt wurde. Abends im Gespräch mit Lus stellte sich allerdings auch hier heraus, dass es sich dabei um einen Übersetzungsfehler handelt und das Wort, was damals für Sommerresidenz gehalten wurde, eigentlich so etwas wie Kühlhaus oder auch Grabstätte heißt. Das macht auch viel mehr Sinn, wenn man in Betracht zieht, dass der Tempel aus einem offenen Raum besteht und die Frage wie dort eine Familie ihren Sommer verbracht haben soll schon sehr interessant ist.
Das Nationalgefühl in Armenien ist sehr stark, das merkt man bei den unterschiedlichsten Menschen und hat viel mit den territorialen Verlusten in den letzten Jahrhunderten und dem anhaltenden Streit mit Azerbaijan um die Karabach-Region zu tun. Interessanterweise wurde mir von vielen Seiten erzählt, dass die Jugendlichen immer konservativer werden – konservativer als ihre Eltern- und Großelterngeneration. Während der Sowjetunion besaß der Kaukasus eine gewisse Freiheit – seit der Auflösung gibt es eine ziemliche Haltlosigkeit und durch die Medien wird probiert eine stärkere nationale Identität zu schaffen. Viele haben Angst vor einer Verwestlichung und probieren deswegen um so mehr “traditionelle Werte” zu verteidigen. Auch der Einfluss der Auslandsarmenier_innen darauf ist sehr groß. Die Ausgewanderten halten um so mehr an den Traditionen fest, kommen zurück und erzählen wie unmoralisch der Westen sei. Gleichzeitig romantisieren viele der temporären Rückkehrer_innen aber auch das Bild und Idealisieren das bodenständige Leben der Armenier_innen. Dabei vergessen viele wie gering das Durchschnittseinkommen ist und wie viel viele der Menschen kämpfen müssen, um zu überleben.
Andere stellen fest, dass die Vorstellung die sie sich von ihrem Heimatland gemacht haben gar nicht zutrifft und kehren nicht mehr zurück, um die romantischen Vorstellungen, an die in ihrer Erinnerung als heile Welt erscheinende Heimat, nicht zu verlieren.
Um das Land und seine Werte zu verteidigen spielt der Militärdienst für die Regierung eine besonders große Rolle. Da aber in den Ausschreitungen zwischen Azerbaijan und Armenien immer noch viele Menschen sterben, probieren selbst ansonsten nationalistisch eingestellte Jugendliche alles Mögliche, um den Militärdienst zu umgehen. Meldet man sich krank, sei es wegen einer Sehschwäche oder einem anderen Leiden, muss man über mehrere Jahre immer wieder durch Untersuchungen beweisen, dass das Leiden tatsächlich noch besteht. Das führt dazu, dass viele Betroffene sich nicht behandeln oder gar operieren lassen. Andere fliehen ins Ausland, was bedeutet, dass sie über eine sehr lange Zeit nicht wieder einreisen können und auch später, wenn sie auf Grund ihres Alters nicht mehr eingezogen werden können noch hohe Geldstrafen zahlen müssen. Bestechung ist für wohlhabende Familien ebenso eine Möglichkeit ihre Kinder vom Militärdienst zu befreien. Das alles führt dann dazu, dass fast nur Kinder aus armen, ländlichen Familien dienen, die keine Möglichkeit haben dem zu entfliehen.
Die Situation zwischen Armenien und Azerbaijan ist extrem angespannt. Man darf sich gegenseitig nicht besuchen und auch telefonischer oder postalischer Kontakt ist nicht möglich. Gleichzeitig werden über die Medien Vorurteile und Hass geschürt, so dass eine Lösung des Konflikts wohl noch weit entfernt ist. Die Tatsache, dass in Azerbaijan Menschen verhaftet worden sind, die beim Grand Prix de la Eurovision für Armenien abstimmten, eröffnet eine politische Dimension der Veranstaltung die für uns wohl unvorstellbar ist.
Georgien, als neutraler Boden zwischen beiden Ländern dient aber besonders den Jugendlichen, um Kontakte zu knüpfen. Es finden wohl einige Seminare und Trainings statt, die zumindest in der jüngeren Generation Verständnis schaffen sollen. Ich habe mit einigen Leuten darüber gesprochen.
Ein Mädchen erzählte, dass die einzigen zwei Armenier_innen die sie kannte extrem grimmig waren und sie so (und beeinflusst durch das medial transportierte Bild) dachte, dass Armenier_innen tatsächlich böse Menschen seien. Bei dem nächsten Seminar an dem sie teilnahm, gab es wieder Armenier_innen, die anfänglich auch grimmig wirkten und sich ihr Bild weiter zu bestätigen drohte. Schnell stellte sich jedoch heraus, dass sie nur unausgeschlafen waren und zwischen beiden Seiten entwickelten sich enge Freundschaften. Diese sind allerdings im Alltag mit vielen Schwierigkeiten verbunden. Nachdem zwei von ihnen “Facebook Freund_innen” wurden bekam die Azerbaijaner_in erhebliche Probleme mit vielen anderen Azerbaijaner_innen und auf der Geburtstagskarte, die die Armenier_in jetzt an sie verschicken will, muss sie sich einen anderen Namen im Absender überlegen, um ihr nicht weitere Probleme zu bereiten.
Ähnliches berichtete auch Sofy, ein_e Palästinenser_in, die auf ein jüdisches Gymnasium in Israel ging und immer wieder auf Verblüffen seitens ihrer Mitschüler_innen stieß, die noch nie Kontakt mit Palästinenser_innen hatten und erstaunt waren kein bombenwerfendes Monster vor sich stehen zu haben. Ich könnte hier noch einiges mehr erzählen, aber dafür reicht leider die Zeit nicht… Es ist so wichtig sich immer wieder selbst ein Bild zu machen und nie zu verallgemeinern. Immer wieder rausgehen und das was man hört und Bilder die sich in den Kopf einschleichen mit dem abgleichen was tatsächlich da ist.
Den letzten Abend in Yerevan verbrachten wir mit Bier am bunt beleuchteten und von Menschen jeden Alters bevölkerten Opernplatz, um uns am nächsten Tag, nach einem Besuch beim Denkmal zum Völkermord an den Armeniern (1915-1917), auf den Weg zurück nach Tbilisi zu machen. Auch wenn die Zeit in Yerevan voller spannender Geschichten war, fühlte sich der Weg nach Tbilisi erstaunlicherweise ganz schön wie nach Hause fahren an.