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Georgien 2011

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Die Zeit zwischen meiner Abreise nach Georgien und Rückkehr aus Wien erwies sich als äußerst abwechslungsreich und durchaus positiv. Wir haben endlich mehr oder weniger alle Artikel für’s Make Out Magazine fertig, die Reihenfolge steht auch schon, es braucht also “nur” noch das Layout und den Druck. Interessante neue Leute gab es auch und ein paar Pläne für’s nächste Jahr, auf die ich wahnsinnig gespannt bin – auch wenn ich noch Wege finden muss um sie tatsächlich umsetzen zu können.

Und ich weiß nicht genau, warum die letzten Nächte vor dem Wegfliegen immer besonders exzessiv und auch intensiv zu sein scheinen – vielleicht ist es die Aufregung vor dem auf sich alleine gestellt sein, oder aber auch der krampfhafte Versuch sich am Zuhause festzuhalten und noch einmal so viel wie möglich mitzunehmen, bevor ich zehn Tage lang das Leben in Berlin verpassen werde. Wie dem auch sei, beeinträchtigen diese Abschiedszeremonien auch immer den Reiseweg. Der durch sie erlangte Zustand, der etwas verstrahlten Übermüdung, gibt mir auf eine Art und Weise die Möglichkeit und den Schutz, meine Umgebung durch eine polsternde Wolke zu betrachten. Und die war diesmal auch wirklich nötig, da die Flugzeuge der Ukrainian International Airlines ganz schön alt und wackelig sind und ich extrem froh war, dass die wetterbedingten Turbolenzen erst auf dem zweiten Flug von Kiev nach Tiblisi einsetzten.

ausrutschende Spatzen in der Wartehalle am Flughafen in Kiev Der Flughafen in Kiev sieht in der Ankunftshalle, dort, wo es Passkontrollen gibt und man in die entsprechenden Terminals bzw. zur Gepäckausgabe weiter geleitet wird, nicht anders aus als die vielen mir bekannten ukrainischen Bahnhöfe. Alles ist grau und die Militärbekleidung mit Hütchen für die Frauen und mit Sternen besetzten Abnähern auf den Schultern erinnern sehr an Sowjetzeiten. Geht man dann allerdings eine schmale graue Treppe hinauf in die Wartehalle ist man sofort im westlichen Kapitalismus angekommen. Große Fensterfronten auf der einen Seite präsentieren einen Ausblick über den Flughafen und die ihn umgebende Weite, die in Verbindung mit einem farbenfrohen Sonnenuntergang tatsächlich ein sehr schönes abendliches Schauspiel bieten. Auf der anderen Seite der Sitzreihe ist man dann umgeben von glänzenden Duty Fee Shops und Filialen unterschiedlicher amerikanisch anmutender Café und Restaurant Ketten. Erst der Besuch des Klos und der ganz eigene Geruch dort, lassen einen sofort wieder wissen, dass man doch in der Ukraine und nicht “irgendwo” auf der Welt ist.
Dieses Zusammentreffen von modernen Ansprüchen, und der noch nicht vollständig geglückten Implementierung dieser, wurde anschaulich von einer Person hervorgehoben, die mit abgespreizten Händen vor den Waschbecken stand und mich fragte, ob ich ihr erklären könne, wie man denn Wasser aus diesen Hähnen ohne Drehknöpfe bekäme. Sensoren die das Wasser automatisch angehen lassen, wenn man die Hände davor hält, kannte sie nicht und auch, dass die Seife aus einem kleinen Hahn direkt aus der Marmorplatte in der die Waschbecken eingelassen waren kommt, ließ sie nur mit dem Kopf schütteln. Leider (oder zum Glück) ist mein Russisch nicht gut genug, um irgendeine Art von Konversation dazu aufrechtzuerhalten, aber zum Verstehen was sie will und um ihr zu zeigen, wie dieser moderne Spielkram funktioniert, hat es immerhin gereicht.

Auch wenn es mich etwas beschämt, wie schlecht mein Russisch nach all den Jahren des Lernens noch immer ist, so bin ich doch auch froh, dass ich es überhaupt kann. Dass ich lesen kann was irgendwo geschrieben steht, dass ich die Zahlen verstehe und zumindest alles überlebenswichtige artikulieren kann. So konnte der Taxifahrer, der mich vom Flughafen in Tbilisi zu meinem großartigen Gastgeber fuhr, mir auf der Strecke von neuen Einkaufszentren und anderen neuen Dingen, aber dennoch schlechten Strassen erzählen und ich in Erfahrung bringen, dass die große Straße die vom Flughafen wegführt seit neustem “George Busch Street” heißt. Seiner Meinung nach wird es sicherlich auch bald eine Merkel und eine Sarkozy Straße geben. Freedom Square (Warum er neben Merkel ausgerechnet Sarkozy nannte, sollte mir kurz darauf klar werden, als wir den Freedom Square erreichten, der in einer georgischen, europäischen und französischen Flagge BonBon-artig verpackt war. In der vorher gehenden Woche hatte Sarkozy Georgien besucht und dieses Ereignis ließ den Präsidenten veranlassen, jenen Tag zum nationalen Feiertag auszurufen, an dem alle Geschäfte und öffentlichen Einrichtungen geschlossen blieben. Der Grund war wohl um Sarkozy mit der größtmöglichen jubelnden Menge zu begrüßen. Da aber, wie mir später erklärt wurde, die Georgier sehr träge seien und sich nur schwer von solchen Aktionen begeistern ließen, mussten trotzdem Menschen vom Land, mit Geld geködert und mit Bussen transportiert, aus den Dörfern abgeholt und zum Jubeln in Tbilisi abgesetzt werden.)

Während ich nach einem Tag, den die Reise hierher gedauert hat, abends mehr oder weniger nur noch ins Bett fallen konnte, war der erste Tag alles andere als langweilig. Ich habe im letzten Jahr sicher noch nicht alles von Tbilisi gesehen, aber doch viele Tage und aufregende Spaziergänge hinter mir. So war mir nicht nach Sightseeing und rausgehen (das stürmisch-regnerische Wetter hatte da keinen unwesentlichen Anteil dran) und ich entschloss mich während mein Gastgeber an der Uni war, von seiner Wohnung aus ein bisschen zu arbeiten, was immer wieder sabotiert wurde, weil wegen des Sturms abwechselnd entweder das Internet oder gleich der ganze Strom ausfiel.

Abends haben wir uns dann im englischen Buchladen mit einem deutschen Freiwilligen getroffen, der seit einem Monat in Tbilisi ist. Während mein Gastgeber seine Flüge für die im Winter anstehende Europareise buchte, konnten wir dort unsere Coming-Out-Stories oder vielleicht auch eher den kritischen Umgang damit austauschen. Von dort ging es dann weiter zu einem Bekannten, der jetzt in den Räumen der ehemaligen LGBTQI Organisation “Inclusive” wohnt und gerade plant mit Freunden ein linkes soziokulturelles Zentrum zu eröffnen. In Georgien geboren, ist er einen Großteil seines Lebens in Italien aufgewachsen und scheint sich noch nicht wirklich sicher zu sein, ob die Georgier_innen schon bereit für linke Selbstorganisation sind. Ich bin mir ziemlicher sicher, dass Interesse da ist und hoffe, dass sie bald anfangen werden, um das selber herauszufinden!
Etwas später kam dann noch eine Freiwillige aus England, die schon seit einigen Monaten in Georgien ist und grade von einem Hitchhiking Trip aus dem Iran wieder kam. Es gab viele Geschichten über Grenzübergänge, Gastgeber_innen, Missverständnisse und andere mehr oder weniger lustige Begebenheiten und auch die Erkenntnis, dass es durchaus etwas ganz anderes ist als Junge oder Mädchen zu Hitchhiken. Als dann noch weitere zehn Freiwillige und Austauschstudent_innen aus Finnland, Litauen und Deutschland vorbei kamen, hatte ich kurz die Befürchtung, dass der Abend von einer interessanten Gesprächsrunde zu einer unkoordinierten Erasmusfeier umschwanken würde – dem kam aber dann zum Glück der Zufall entgegen.

Ich hatte am Abend, als wir durch die Stadt gegangen waren, schon ein altes Haus gesehen, in dem unten eine Bank Filiale war, aber die Beleuchtung und die Köpfe, die Lautsprecher und die Atmosphäre, die in der ersten Etage auszumachen waren, einen netten Ausgehort zu versprechen schienen. Als wir nun in dieser großen Gruppe durch die Stadt stolperten, auf der Suche nach einem Ort, an dem es genug Platz für alle gab und der auch noch ein bisschen geöffnet bleiben würde, hielt uns, und dafür liebe ich Georgien, ein Mädchen an und fragte ob wir nach einer Party suchten. Sie zeigte uns eben jenes Haus was mir schon vorher aufgefallen war und meinte wir sollten auf jeden Fall dort hingehen, weil das die beste Party des heutigen Abends in Tbilisi wäre. Nicht nur, dass der Minimal-Sound der mir beim Betreten des Gebäudes gleich verlockend entgegen trat, schon gewisse Erinnerungen und damit verbundene Hoffnungen in mir weckte, an der Theke traf ich auch gleich auf ein bekanntes Gesicht.

Irgendwann im August diesen Jahres bekam ich eine mail, in der stand, dass sich die Leute von EIF (über deren Organisation ich bereits im letzten Jahr an einem Training Course in Georgien teilgenommen hatte) freuten zu sehen, dass ich nun bei Amaro Drom e.V. für die Koordination der Freiwilligen zuständig sei. Sie hätten noch einen freien Platz für eine Studienreise zu Freiwilligendiensten in Georgien und würden mich gerne mit dorthin nehmen. Als ich im letzten Jahr Georgien verließ, hatte ich nicht in Erwägung gezogen noch einmal dorthin zurückzukehren, weil es doch noch so viele andere Orte auf der Welt zu entdecken gab. Nun aber, mit der Möglichkeit einer Rückkehr konfrontiert, stand es für mich außer Frage, wieder dorthin zu wollen. Tatsächlich war die Vorfreude so groß, dass kurz vor der Abreise doch noch die Befürchtung aufkam, dass es gar nicht so gut wie im letzte Jahr werden könne.

Außer meinem Gastgeber (der mich seit meinem letzten Aufenthalt bei ihm, auch zwischendurch in Berlin besuchte) hatte ich niemanden meiner letztjährigen Bekanntschaften darüber informiert, dass ich in Georgien sein würde. Dies hatte vor allem den Grund, dass ich keine Lust auf Terminstress hatte, aber auch, weil mich das Spiel mit dem Schicksal immer wieder reizt. Dinge passieren schon auf ihre Art und Weise, dass sollte mensch nicht zu eigenmächtig planen, sondern die Situationen viel mehr auf sich zukommen lassen. Darum war es um so schöner und bestätigender P., den letztjährigen Leiter oben schon erwähnter LGBTQI Organisation zu treffen, der mich damals schon zu einer tollen Party an einem See nahe Tbilisi mitnahm und mich mit unwahrscheinlich vielen Aktivist_innen und vor allem netten und interessanten Menschen aus Georgien, Armenien und Azerbaijan bekannt machte. Nicht nur, dass wir uns dort wieder sahen, im Gespräch stellte sich dann auch heraus, dass der Ort bis vor kurzem hauptsächlich der Treffpunkt für die Schwul- und Lesbenszene Tbilisis gewesen ist, die Musik und Atmosphäre aber, wie so oft, zu gut war und nun auch ein großes Hetero-Publikum anzieht. Als Schutzraum funktioniert es aber desto trotz und so wurde der erste Abend in Tbilisi ein rauschender – voller neuer und alter Bekanntschaften und sogar für mich durchaus tanzbarer Musik.

Ich muss ganz ehrlich zugeben, dass ich gestern, an meinem dritten ganzen Tag in Tbilisi, das erste mal wirklich bei Tageslicht draußen war. Das war durchaus nicht so geplant, aber hatte den positiven Nebeneffekt, dass ich mein neues Dissertationexposé bis auf die Literaturangaben nun fast fertig habe. Nachdem ich am zweiten Tag mit meinem Gastgeber Spaghetti mit Tomatensoße auf indische Art gekocht hatte, was sehr lecker und spannend war, traf ich mich mit jenem oben schon erwähnten deutschen und einigen weiteren Freiwilligen in ihrer Wohnung in der Altstadt Tbilisis. Nun, da ich mich beruflich so viel mit dem Freiwilligendienst und den Ansprüchen der Freiwilligen in Deutschland auseinander setze, aber meine persönlichen Erfahrungen in post-sowjet Regionen gesammelt habe, frage ich mich immer wieder was denn so die gerechtfertigte Erwartungen an Unterkünfte und Lebenshaltung seien. Ich muss immer noch an die beiden Mädchen in Gat (Ukraine) denken, die sich ein Jahr zu zweit ein höchstens 10qm kleines Zimmer geteilt haben, eine Gastmutter hatten die ständig um sie herum wuselte, es kein warmes Wasser in der Wohnung gab und sie zum Klo ganz schön weit nach draußen mussten. Gleichzeitig ist das den allgemeinen Lebensumständen der Dorfbevölkerung angepasst. Ähnlich ist es auch hier. Die eine Wohnung der Freiwilligen in Tbilisi ist in einem der kleinen krummen und schiefen verwinkelten Häuser gelegen, die die gesamte Altstadt ausmachen. Sie teilen sich die Zimmer zu zweit, diese sind aber groß und geräumig, das Badezimmer ist neu und sie haben eine voll funktionsfähige Küche. Da insgesamt 12 Freiwillige von der gleichen Organisation in Tbilisi sind, sind jeweils sechs in einer WG untergebracht. Die einen eben in der Altstadt, die anderen in einer Plattenbau-Siedlung etwas außerhalb. Da sich die Freiwilligen viel austauschen und gegenseitig besuchen, finde ich diese Aufteilung großartig, denn so ist ihnen die Möglichkeit gegeben gleich zwei Wohnrealitäten mitzubekommen – denn die Mehrzahl der Menschen in Tbilisi wächst sicherlich in jenen etwas außerhalb gelegenen Plattenbausiedlungen auf.

Am Samstag Nachmittag ging dann das Programm mit der Studienreise-Gruppe los. Wie gewohnt gab es Ice-Breaking-Games und Namensspiele. Ich bin inzwischen wirklich froh, dass es kreativere Methoden dafür gibt, als das frühere Ball hin und her werfen, um sich die Namen zu merken und gleichzeitig auch ein bisschen etwas über die unterschiedlichen Teilnehmer_innen zu erfahren. Diese waren zwischen 20 und Mitte 40, aus Azerbaijan, Armenien, Georgien, Russland, Ukraine, Slowakei, Tschechien, Polen, Estland, Finland, Deutschland, Österreich, Frankreich, Italien und Portugal. Mit ca. zehn Teilnehmer_innen mehr als beim Training Course im letzten Jahr, teilte sich die Gruppe doch während der Woche mehr in Untergrüppchen auf und ich ärgere mich immer wieder darüber, wie viel schwerer es mir fällt mit den Leuen zu kommunizieren, die ich eigentlich spannender finde und mit denen ich mir wahrscheinlich auch mehr zu sagen hätte. Vielleicht liegt das daran, dass das meist die Menschen sind, die auch ein bisschen mehr Zeit zum auftauen und um sich zu öffnen brauchen, vielleicht steh ich mir da aber auch gerne ein bisschen selbst im Weg. Aber da ich mich nicht die ganze Zeit ärgern wollte, habe ich den Kampf gegen meine eigenen Einschränkungsmechanismen so gut es ging aufgenommen und es Richtung Ende dennoch hinbekommen mit allen zu reden und besonders einen schönen Nachmittag in Batumi, im strömenden Regen, aber dafür in besonders netter Begleitung, zu erleben.

Der zweite Tag der Studienreise wurde zum Grundlagenaufbau genutzt. Wir haben ein City Game gespielt, um mit der lokalen Bevölkerung in Kontakt zu kommen und sie zu Freiwilligendiensten und den Konflikten in ihrem Land zu befragen. Spannend war dabei, dass keiner wirklich eine Aussage zu den Konflikten machen wollte. Die einzige die überhaupt bereit war mit uns darüber zu reden, hat ganz klar gesagt: “Ja, es gibt die Konflikte und das ist sehr schade, aber was ich dazu denke, möchte ich nicht öffentlich kundtun.” Dabei kann die Tatsache, dass viele auf Russisch gefragt haben, eine Rolle gespielt haben, obwohl doch von fast allen Georgier_innen während der Reise sehr differenziert gesagt wurde, dass sich nichts gegen die russische Bevölkerung hätten, sondern nur etwas gegen die russische Politik.

Im Gegensatz zu dem Conflict Management Training Course im letzten Jahr, wo es mehr um das theoretische Konflikt lösen ging, wurde in diesem Jahr sehr viel mehr auf die lokalen Konflikte Bezug genommen. Und obwohl sich sicher alle Teilnehmer_innen, die nicht aus der Region kamen über die Situation(en) im Kaukasus informiert hatten, vom Krieg und den russischen Angriffen auf Südossetien und Abchasien wussten, war es doch relativ schwer sich vor der Ankunft hier in die Situation hineinzudenken – besonders wenn man sich in Tbilisi zwischen schicken Ladenketten, Bars und Cafés bewegt und alles nach einem (aus kapitalistischer Sicht betrachteten) aufstrebenden Leben Richtung Westen aussieht.

Darum war es für viele von uns um so beeindruckender eins der Flüchtlingslager für die IDPs (Internally Displaced People) zu besuchen. Und das Bild hier kann den Eindruck gar nicht annähernd wieder geben. Zweitausend Häuser die exakt gleich aussehen, in Reihen angesiedelt sind und die sich irgendwo in Nirgendwo befinden. Es gibt eine Schule, ein Rathaus, eine Bank und eine Post und ansonsten weder Möglichkeiten zu arbeiten noch Gründe Kontakt zur restlichen Bevölkerung aufzunehmen. Außerdem bekommen die Bewohner dieser “Siedlung” nur limitierten Strom und Gas und fast kein Geld, um sich selber etwas zu kaufen. Man sieh und spürt eine Bedrückung, sobald man das Gelände (das auch noch eingezäunt ist) betritt. Die Lehrer_innen und Jugendclub Leiter_innen die wir getroffen haben, meinten dass der Frust und die dadurch bedingte Aggressivität sehr hoch seien.

Es gab einige Gesprächsrunden, in der die georgischen Teilnehmer_innen von der Zeit des ersten Konflikts 1991/92 berichteten, wo viele von ihnen selbst geflohen sind, oder in der Grenzregion gelebt haben, in die die Flüchtlinge strebten. Damals gab es keine staatliche Unterstützung und viele von ihnen leben immer noch in Armut in ehemaligen Hotels und Schulen, die damals als Notunterkünfte genutzt wurden. Gleichzeitig war es damals aber wohl auch noch einfacher neue Geschäfte oder ähnliches aufzubauen, wenn man gewisse Beziehungen und wohl vor allem auch die Kraft dazu besaß, nachdem man alles verloren hatte sich wieder ein neues Leben aufzubauen. Egal welche der Teilnehmer_innen aus dem Kaukasus man nach den Gründen für die Konflikte fragte – während es in Georgien auch gerade ruhig ist, in der Grenzregion zwischen Azerbaijan und Armenien sterben immer noch täglich 3-10 Menschen in bewaffneten Auseinandersetzungen – sie alle zeigten eine gewisse Ratlosigkeit, aber auch einen starken Kampfgeist sich dieser so ausweglos scheinenden Situation gewaltfrei entgegenzustellen. Das Hauptproblem scheint auch hier mal wieder in einem Interessenkonflikt zwischen Russland und “dem Westen” zu liegen. Russland unterstützt die Konfliktzonen und Separatisten, um Konflikte zu verstärken und zu unterstützen und damit die Region, die verbündet über zu viele Ressourcen und Macht verfügen könnte, schwach zu halten. Der Westen, seien es die USA oder Europa, probieren dagegen unter dem Vorwand die jungen Demokratien zu unterstützen ein kapitalistisches System aufzubauen, von dem sie selbst profitieren können. Die Hoffnung die bleibt, liegt hier eindeutig in der jungen Generation, die Menschen zwischen 20 und Mitte dreißig, die an internationalen Begegnung teilnehmen, Freiwilligendienste im Ausland machen und dort Erfahrungen sammeln, die sie in ihren eigenen Ländern oder Regionen wieder einbringen wollen. Und dabei ist es für mich sehr spannend gewesen zu sehen, dass der Blick dafür nicht zu westeuropäischen Ländern geht, sondern viel mehr zu den neuen EU Staaten, wie Polen, Tschechien oder Estland, deren Transformationsprozesse auf Grund einer viel ähnlicheren Vergangenheit ganz andere Anknüpfungspunkte für die Jugend hier bieten.

Das veranschaulichte auch eine spannende Diskussion über den strukturellen Aufbau von Organisationen in Frankreich und Georgien. Während Frankreich den demokratischen Prozess innerhalb der eigenen Organisation positiv hervorhob, den ein Verein mit Plenarsitzungen, Abstimmungen und Konsensentscheidungen mit sich bringt, sagte Georgien, nicht ohne einen gewissen Zynismus: “Vielleicht ist die Zeit für langatmige demokratische Prozesse, wie sie bei euch stattfinden langsam vorbei. Jetzt ist die Zeit zu handeln!” Und dass wir, als globale Gesellschaft, uns ernsthaft Gedanken über Alternativen zu den aktuellen politischen Systemen machen müssen steht außer frage. Das es in mehr und mehr Ländern Menschen gibt, die sich solidarisch verbünden und durch Straßenaktionen ihren Widerspruch zum Ausdruck bringen ist nur ein Zeichen für den hoffentlich bevorstehenden gesellschaftlichen Umbruch. Von mir dazu vielleicht hier bald mehr, ansonsten empfehle ich dazu “Der kommende Aufstand” oder einfach sich ein bisschen umzuschauen und selber Gedanken zu machen.

Inzwischen sitze ich wahnsinnig übermüdet in Kiew am Flughafen und bin unglaublich froh diese Reise angetreten zu haben. Wie immer waren die Menschen sicher das beeindruckendste was mir begegnete, auch wenn die georgische Szenerie durchaus ihre Reize hat – mit Burgruinen in Hügellandschaften, riesige Wellen und wirklich spannenden, kreativen Neubauten. Als ich letztes Jahr hier war, war ich mir nicht sicher, ob ich jemals wieder kommen würde, in der letzten Woche wurde es einfach klar, dass ich wohl immer wieder kommen muss. Und auch wenn noch nichts in trockenen Tüchern ist, so besteht doch für mich nun der konkrete Plan, im nächsten Jahr ein Partner Building Seminar in Georgien, mit jungen LGBTQI Aktivist_innen aus dem Kaukasus und anderen Regionen zu veranstalten.

Es fällt mir schwer die Highlights dieser Reise zu nennen, weil es zu viele gab. Gestern z.B. gab es in einem Park eine Living Library, die von lokalen und internationalen Freiwilligen organisiert wurde. Das Konzept der Living Library ist so einfach wie effektvoll. Menschen, die vielfach Diskriminierungen ausgesetzt sind erzählen Interessierten aus ihrem Leben, um so Kontaktängste abzubauen. Es gab Muslime, Blinde, Kurden, Ex-Gefangene, Vegetarier_innen, Journalist_innen und eine Feministin, die irgendwie natürlich meine erste Wahl war. Sie arbeitet in einer lokalen LGBT Organisation und wenn alles klappt werden sie unsere Partner für das Projekt im nächsten Jahr. Für Ausländer_innen wie mich, die an der Living Library teilnehmen wollen gab es Übersetzer_innen und auch wenn wir bei unseren Gespräch eigentlich keine brauchten, fragte meine, ob sie nicht trotzdem dabei bleiben könnte. Und das war auch gut so, da sie tatsächlich viele Fragen hatten, auf die wir zu zweit sicher nicht eingegangen wären: Ab wann kann man sich eine Feministin nennen? (und es war toll ihre freudiges Grinsen zu sehen, als wir gesagt haben, dass wenn sie sich für Gleichberechtigung und Selbstbestimmung von Frauen stark macht, sie sich durchaus als Feministin bezeichnen kann) Aber noch viel wichtiger: Warum versteht mich keine_r, wenn ich mich dafür einsetze? Und wie kommt es überhaupt zu der Ungleichheit?

Neben den ganzen wundervollen Weltbürger_innen, die ich kennengelernt habe, sollte aber auch die georgische Gastfreunschaft nicht unerwähnt bleiben. Egal wo man hinkommt, man wird sofort freudig aufgenommen und interessiert ausgefragt. Als ich an meinem letzten Abend mit noch halb vollem Bier die Café Gallery verließ – in Deutschland würde ich das Bier wohl einfach irgendwo abstellen, weil alle extrem skeptisch wären, wenn man ein angebrochenes Bier abgeben wollte – war es hier für mich ganz klar zur nächsten herumstehenden Gruppe zu gehen und zu fragen, ob sie das Bier haben wollten. Und dann ist es nicht so, dass ich das einfach dort stehen lassen könnte. Erstmal vorstellen, austauschen was man so macht und dann Konjak trinken. Auf die internationale Freundschaft und den Austausch, denn ohne Toast zu trinken geht bei Georgier_innen nicht.

In Kobuletti begrüßte mich der Hotelbesitzer gleich mit einem Kuss, weil er mich vom letzten Jahr erinnerte und selbst eine der Ladenbesitzer_innen im Ort, erinnerte sich sofort daran, dass ich bereits früher dort gewesen sei. Am letzten Abend in Kobuletti, an dem ich noch mit einigen weiteren übrig gebliebenen dort verweilte, wurden wir auf eine vorbereitende Hochzeitsfeier eingeladen. Eigentlich nur auf einem Spaziergang durch die Nacht, fanden wir uns auf einmal in einer erleuchteten Halle mit einigen Menschen darin wieder und wurden zu Konjakt, Wein, vielen Fragen und noch mehr zu Essen eingeladen. Also liebe Leser_innen fahrt nach Georgien! Wenn ihr Kontakt zu Menschen in Tbilisi (oder auch woanders) braucht, die sich freuen Reisende aufzunehmen, schreibt mir. Mit Englisch kommt man bei der jüngeren Bevölkerung sehr gut zurecht, wenn man auch noch Russisch kann, gibt es nirgendwo Verständigungsprobleme. Und, wie mensch in Georgien sagt: “Wenn du dich an die Party vom letzten Abend nicht mehr erinnern kannst, dann war es eine fantastische Party!”




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