Eigentlich war ich mir gar nicht so sicher, ob ich von dieser verhältnismäßig kurzen Reise überhaupt schreiben sollte – bis ich danach gefragt wurde. Und irgendwie ist mir das Schreiben auch noch nie so schwer gefallen. Es geht gegen alle meine Prinzipien nur die negativen Dinge aufzuschreiben, die Tag für Tag auf uns einstürzen, ohne daraus Interventionsmöglichkeiten für die Zukunft zu ziehen. Und das fällt mir hier gerade sehr schwer…
Heute ist der letzte Morgen, an dem ich auf dem kleinen sonnigen Balkon meiner temporären Unterkunft hier in Uzhgorod, der ukrainischen Tür nach Europa, sitze. Neben mir blüht ein riesiger Kirschbaum, die Vögel zwitschern und um mich herum ist es noch ziemlich still. Jemand hackt Holz und entfernt bellen ein paar Hunde. Autos hört man gerade gar nicht. Dass Uzhgorod nur einen Kilometer von der slowakischen und drei von der ungarischen Grenze entfernt ist merkt man an den Läden, daran dass immer mehr Jugendliche und auch ältere Menschen mit Turnschuhen herumlaufen. Vor einigen Jahren hat man Frauen immer nur in hohen Absätzen durch die Stadt stolzieren sehen. Jungs, die vorher fast alle kurze Haare hatten, laufen jetzt im Skater oder Emo Look rum.
Etwas anderes das auffällt ist, dass sich der Umgang mit den Tieren verändert. Während Hunde vorher hauptsächlich als Alarmanlagen auf den Grundstücken gehalten wurden, die ausgetauscht wurden wenn sie nicht mehr funktionierten, sehe ich jetzt immer öfter Leute mit ihren Hunden spazieren gehen. Das mag vielleicht einiges damit zu tun haben, dass die Hunde auf ein mal auch eine bestimmte Rasse haben müssen. Richtige Wachhunde, die zu den schicken neu gebauten Villen passen, müssen auch elegante Schäferhunde sein, für die sicher eine Menge Geld ausgegeben wird. Und damit sich die Investition lohnt müssen sie eben auch gepflegt werden.
Der Grund warum ich grade so viele Dinge so negativ sehe liegt unter anderem daran, dass in der kurzen Zeit die ich hier bin jede Begrüßung sofort wieder zu einer Verabschiedung wurde. Nach der ersten großen Wiedersehensfreude wurde mir überall von neuen Grausamkeiten, Krankheiten und Ausweglosigkeit erzählt und es war kaum Zeit da, um den Zusammenhalt, das zwischenmenschliche Einfühlungsvermögen und den Respekt und die Liebe (einigen) anderen Menschen gegenüber zu spüren. Alle wünschen sich das Beste für mich – alle wünschen mir einen Mann. Langsam kann ich sogar wieder lachen.
Also vielleicht erstmal wieder zurück zum Anfang. Als ich am Samstag in Budapest ankam, blieb mir grade genug Zeit für eine Zigarette im sonnigen Park vor dem neuen RGDTS (Roma-Gadge Dialogue through Service) Büro, bevor es mit der Arbeit losging. Der Anlass, der mich nach Budapest brachte, war die Gründung eines Dachverbandes für verschiedene internationale Freiwilligendiest-Organisationen, die im weitesten Sinne irgendwas mit Roma zu tun haben. Durch den Dachverband sollen die Verbindungen dieser Organisationen gestärkt und sie in ihrer Arbeit durch Seminare und Trainings besser unterstützt und sensibilisiert werden. Die Idee ist sicher nicht die schlechteste, aber irgendwie kam es zu der Überlegung, diesen Dachverband in Deutschland zu gründen, was dazu führte, dass ich mich um einen ganzen Teil der Formalitäten kümmern musste.
Damit diese Satzung, nach viel hin und her mit dem Finanzamt und Gesprächen mit deutschen Anwälten nun aber auch in der gesamten Gruppe diskutiert werden konnte musste sie ins Englische übersetzt werden. Das bedeutet, dass eine ungarische Muttersprachlerin, die sehr gut Deutsch kann, den Text, voller legaler Formulierungen ins Englische übersetzt hat und das Ganze dann von einem englischen Muttersprachler korrigiert wurde. Nach nun mehr zwei Tagen Diskussion über englische Formulierungen wird das dann wieder ins Deutsche übersetzt und ich frage mich ernsthaft wie viele der nun von uns festgelegten Feinheiten im Deutschen tatsächlich zu erkennen sein werden… Immerhin haben alle Anwesenden der Satzung zugestimmt, wir konnten uns untereinander besser kennenlernen und austauschen und auch wenn noch lange nicht alles geregelt und geklärt ist, sind wir doch einen großen Schritt weiter gekommen.
Trotzdem gibt es noch wahnsinnig viele Unklarheiten, die weder in der Gruppe, noch in der gesamten Gesellschaft, in absehbarer Zeit geklärt werden können, was für mich, auch im Bezug auf die Ukraine, im höchsten Maße unzufrieden stellend ist. Nachdem sich die Teilnehmer_innen und ihre Organisationen vorgestellt hatten, wurde auf die bisherige Arbeit des RGDTS verwiesen, wie viele Freiwillige seit der Gründung 2003 wohin entsendet wurden und warum so viele Roma “immer noch” am Rande der Gesellschaft lebten. Immerhin soll der Freiwilligendienst, und damit auch der neu gegründete Dachverband, langfristig zur Veränderung dieser Situation beitragen.
Der Grund, der für die gleichbleibende Benachteiligung von Roma genannt wurde, sei eine Schnittmenge aus “(inter)cultural sensitivity”, “majority – minority relationship”, “culture of poverty”, “institutional racism” und “mythological difference”. Der präsentierte Lösungsansatz lag in der Schaffung von “self-sufficiency”, “self-identity” und “shared responsibility”.
Auch wenn ich mit der Begriffswahl (wie z.B. culture of poverty) nicht zwingend einverstanden bin, macht das Konzept Sinn, wenn man probiert eine Erklärung aus der Sicht einer Mehrheitsgesellschaft zu finden, die unser gesellschaftliches System nicht als Ganzes hinterfragt. Gleichzeitig geht aus dieser Darstellung aber für mich nicht hervor, wie diese Veränderung tatsächlich umgesetzt werden soll.
Ich glaube, dass ein Stück Gesellschaftskritik dadurch präsentiert werden sollte, dass gesagt wurde, dass drei Arten von Menschen aus dem heutigen neoliberalen System herausfallen würden. Häftlinge, Menschen mit Behinderungen und Freiwillige. Nicht nur ist diese Unterteilung verkürzt und böse verallgemeinert, sie bezieht sich auch einzig und allein auf den Mainstream und lässt jede Form von Gegenkultur außer Acht. Leider fällt es mir in solchen offiziellen Settings immer noch schwer, auf die schnelle alternative Annäherungen darzustellen, ohne emotional zu werden und den Rahmen zu sprengen. Andererseits hatte ich mit einigen der Anwesenden auch vorher schon probiert zu reden, aber, ich weiß nicht ob das an ihrem Alter liegt, es war keine Bereitschaft da, die seit Jahrzehnten von ihnen tradierten Konzepte zu hinterfragen. Die Schwierigkeit, die ich bei den meisten Menschen sehe, liegt in der Unfähigkeit sich selbst zu hinterfragen (“ich will den Benachteiligten doch helfen, also warum sollte die Kritik bei mir anfangen?”) und die globalen und historischen Zusammenhänge zu begreifen (“was hat denn das jetzt damit zu tun? Wir können doch nichts dafür, dass es Menschen in anderen Teilen der Welt schlecht geht!”).
Gemeinsam mit einem Kollegen aus Deutschland habe ich in den letzten Wochen begonnen ein Konzept zu entwickeln, um eine kritische(re) Reflexion zur Marginalisierung und Ausgrenzung von Roma und Sinti bei der gleichen Zielgruppe (Menschen die sich im sozialen Bereich engagieren) anzuregen. Und das Konzept ist eigentlich wahnsinnig einfach. Im Gegensatz zu den ganzen oben genannten interagierenden Punkten, wo man überhaupt nicht weiß, bei welchem man anfangen soll, um eine Veränderung einzuleiten, fangen wir bei den Wurzeln der Demokratie an. Die basierte schon immer darauf, dass einige (männliche Stadtbürger) teilhaben konnten und andere (Sklaven, Frauen, Dorfbevölkerung,…) nicht. Anstatt fertige Modelle zu präsentieren wollen wir zum kritischen Denken und graduellen Veränderungen im Alltag und der eigenen Handlungsmuster anregen.
Das Konzept der Menschen mit Stimme und der ohne ist seit den Ursprüngen der Demokratie bestehen geblieben. Zwar haben inzwischen (fast) alle Menschen eine offizielle Stimme, d.h. sie dürfen wählen und werden auf dem Papier als gleichberechtigt anerkannt, dennoch sieht die Realität und der gelebte Alltag anders aus. Um noch mal auf das oben beschriebene System zurück zu kommen, würde ich sagen, dass es zwei Gruppen gibt, die nicht in das neoliberale System passen. Das sind zum einen die Menschen, die aus unterschiedlichen Gründen (soziale, psychische oder körperliche Benachteiligungen) nicht daran teilhaben können und diejenigen die sich dem System bewusst verweigern oder das System zumindest nicht als selbstverständlich hinnehmen.
Zugespitzt kann man auch sagen, es gibt diejenigen, frustrierten Menschen, die meinen sie müssten eine Arbeit ausführen, weil es ihre gesellschaftliche Pflicht sei und aus dieser Frustration heraus meinen, die diskriminieren zu müssen, die sich nicht den gleichen Zwängen unterlegen.
Oder andersherum: Es gibt diejenigen die traditionell Zugang zu Ressourcen haben und auch sehr viel Wert darauf legen, dass dieser Zugang in der Hand der Menschen bleibt, die ihnen am ähnlichsten sind. Und es gibt diejenigen denen dieser Zugang von vorne herein erschwert wird, weil sie irgendwie “anders” sind, die richtigen Codes nicht kennen und weil die Ressourcen eben limitiert sind.
Wie kann es da zu einer Gleichberechtigung kommen?
Und um wieder zu Roma und Sinti zurück zu kommen: Zwar wird von vielen Seiten ihr kultureller Beitrag geschätzt, zwar werden sie in der Musik und Kunst geehrt, aber zu einer sozialen Anerkennung führt das so lange nicht, so lange dieser Bereich eben nur das irrationale Gegenüber des rationalen Arbeiteralltags ist. Wenn Geisteswissenschaften und das Vorantreiben von kritischem Denken, die Möglichkeit komplexe Zusammenhänge zu begreifen und das kontinuierliche Hinterfragen der Gesellschaft(en), oder Kultur (im Sinne von innovativer Kunst, Musik,…) als Extras der Gesellschaft betrachtet werden und nicht als elementar, werden auch alle, die nicht wie die weiße heteronormative Mehrheitsgesellschaft funktionieren, diskriminiert bleiben.
Und welche Erkenntnisse kann ich daraus jetzt für die Ukraine ziehen? In der letzten Woche habe ich mehr Ukrainisch gelernt als in dem ganzen Jahr das ich hier war. Eigentlich habe ich bis auf Evgenija, die auch bei einer Roma Organisation arbeitet und einige Bücher (u.a. ein Schulbuch zu Roma Kultur und Geschichte, ein Romanes – Ukrainisches Wörterbuch und Zeitzeugenberichte von Holocuast Überlebenden) veröffentlicht hat, nur näheren Kontakt zur Roma Bevölkerung hier gehabt. Meine primäre Sozialisation fand durch die ungarischen Roma in Szenrye, einem kleinen Dorf statt, meine zweite bei der Roma Elite in Uzhgorod. Kontakte zur Mehrheitsbevölkerung gab es in Taxis, in Läden oder an der Grenze. Und die waren selten erfreulich. Dieses Mal sagte der Grenzbeamte bei meiner Ankunft, auf den Grund meiner Einreise: “Na, aber Deutsch wirst du den Roma wohl nicht beibringen wollen, das können die doch gar nicht lernen!”
Milan, mein Patenkind, das jetzt sechs Jahre alt ist und in die erste Klasse geht, hat mir grade einen Brief geschrieben. In ganzen Sätzen und fehlerfrei.
Miro macht seit fast 1 1/2 Jahren eine eigene Fernsehsendung. Zwei mal die Woche bei einem öffentlich rechtlichen Kanal und stellt Roma Projekte, Geschichte und aktuelle kulturelle Themen vor. Er hat nicht nur Jura studiert, sondern auch eine siebenmonatige Ausbildung als Fernsehjournalist gemacht, er will weiter studieren, schickt seine Kinder in gute Schulen und organisiert nebenbei noch Hilfsprojekte. Er will mit mir einen Film drehen, der auch international auf die Lage von Roma in der Ukraine aufmerksam macht.
Als ich Aladar Adam traf, der ebenfalls Jura studiert hat und seit Jahrzehnten in NGO’s arbeitet, Rechtsberatung macht, eine eigene ukraineweite Roma Zeitung, eine Zeitschrift für Roma Kinder, eine Zeitschrift für Roma Frauen und noch so vieles mehr heraus gebracht hat, der sich um Entschädigungszahlungen gekümmert hat und jetzt ein Altenheim aufbauen will, lief das erste Gespräch über Ressourcenknappheit, über Japan und das immer wieder so viel passiert auf das wir nicht vorbereitet sind. Er sagte: “Die Welt kann uns nicht mehr aushalten, wir sind zu viele Menschen und verbrauchen zu viel. Man müsste die Hälfte der Menschen umbringen, dann könnte sich vielleicht wieder ein Gleichgewicht entwickeln.” Ich fragte: “Und welche Menschen bringen wir um?” Und er: “Na ja, als erstes die Zigeuner!” lachte und zuckte mit den Schultern. Wenn man so handlungsunfähig gemacht wird, wie soll man da ohne Zynismus überleben?
Das sind alles Menschen, die wissen wie wichtig Bildung ist, die probieren aus ihrer Isolation auszubrechen, eine Öffentlichkeit zu schaffen, aber die Mehrheitsbevölkerung bekommt das nicht mit. Sie interessiert sich nicht für die Bemühungen Einzelner und sieht nur die entpersonalisierte Masse der bettelnden, schmutzigen Zigeuner, die ja nichts dafür kann, dass sie so arm dran sind. “Das liegt ihnen eben im Blut, genau wie das Musizieren.” Dass sie, als täglich agierende und ausgrenzende Mehrheitsbevölkerung, die nur das sieht, was sie sehen will, vielleicht was dafür können kommt ihnen nicht in den Sinn.
In Szernye sind alle krank. Timi ist so dünn, dass sie kaum noch laufen kann. Es ist kein Geld da, um sie ins Krankenhaus zu lassen und auf Grund von einer Entzündung darf sie auch ihr Baby nicht mehr stillen. Jetzt müssen sie Milchpulver kaufen und das lässt noch weniger Geld übrig, um sie zu behandeln. Ihr Sohn hat was mit der Lunge, ihre Tochter was mit dem Herzen. Rozi hatte gerade eine Fehlgeburt. Peter hat eine Immunschwäche. Zsuzsi hat Krebs und ist im Krankenhaus. Und das geht so weiter und weiter. Das sind Menschen die ich liebe und die ich von klein auf an kenne. Und die Mehrheitsbevölkerung lacht über sie. “Die können das ja nicht besser. Wenn sie Geld hätten würden sie es ja eh nur verprassen.”
Und Geld hilft nur für einen so kurzen Moment. Jetzt sitze ich hier und soll ein Sommercamp in der Ukraine planen, an dem Roma und Nicht-Roma Jugendliche aus ganz Europa teilnehmen wollen. In einer oder den beiden Roma-Schulen in Uzhgorod. Ursprünglich in einem Kinderheim, aber der Leiter will doch lieber keine Ausländer_innen da haben. Wir sollen Wände streichen oder einen Spielplatz bauen. Und danach heißt es wieder die ganzen Hilfsorganisationen kümmern sich ja nur um die Roma, keiner kümmert sich um die restliche Bevölkerung der es durchaus auch nicht immer gut geht.
Für die Sozialpädagogik Student_innen soll das zweiwöchige Sommerlager zum Pflichtpraktikum werden. Ich habe vor ein paar Tagen mit ihnen gesprochen und es war klar, dass sie sich noch nie die Mühe gemacht haben, sich mit den Roma in ihrer direkten Umgebung überhaupt auseinanderzusetzen. Ich möchte nicht malen, sondern mich mit ihnen unterhalten. Ich habe den Lehrer_innen vorgeschlagen, statt nur den Kindern etwas beizubringen, mit allen Teilnehmenden Romanes zu lernen. So können die Kinder uns auch etwas beibringen und es kann ein Austausch in beide Richtungen stattfinden. Die Idee erschien ihnen vollkommen neu. Ich werde in der nächsten Woche ein Konzept entwickeln, was hoffentlich alle Seiten zufrieden stellt und dann “nur noch” finanziert werden muss. Und was hoffentlich in diesem Jahr nur als Anfang umgesetzt wird.
Inzwischen bin ich wieder zuhause in meinem Zimmer in Berlin. Dass ich vorgestern um diese Zeit noch in Uzhgorod war scheint fast unmöglich. So gerne ich mehr Zeit mit den Menschen dort verbringen möchte, so viel Angst habe ich davor wieder hin zu fahren. Immerhin war der Sonntag an dem ich das oben stehende geschrieben habe ein wunderschöner Tag. Die Sonne hat geschien, ich habe noch einige Menschen getroffen und nach einer schlaflosen Nacht voller Wut und Traurigkeit hat das Aufschreiben immerhin geholfen einigermaßen gefestigt zurück fahren zu können. Und mein Möglichstes zu tun was zu verändern und nicht aufzugeben.